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Pnina Katsir sitzt lächelnd gemeinsam mit ihrer Enkelin Yael Katzir, der Fotografin Helena Schätzle und mit Elena Padva vom Sara-Nussbaum-Zentrum in Kassel vor 70 Schülerinnen und Schülern der Q2. Sie ist hergekommen, um von ihrer Jugend zu berichten. Der Begriff sei für sie nicht derselbe ist wie bei denen, die hier zuhören: Pnina Katsirs Heimat war die Bukowina, eine Landschaft, deren Norden zur Ukraine und deren Süden zu Rumänien gehört. Als sie neun Jahre alt war, trat Rumänien dem Dreimächtepakt bei, das Staatsgebiet wurde Hitler zum Aufmarsch der Truppen für den Ostfeldzug zur Verfügung gestellt.

Pnina Katsir

Pnina Katsir (2. Foto von oben, 3. v. l.) sitzt lächelnd gemeinsam mit ihrer Enkelin Yael Katzir (links), der Fotografin Helena Schätzle (rechts) und mit Elena Padva (2. v. l.) vom Sara-Nussbaum-Zentrum in Kassel vor 70 Schülerinnen und Schülern der Q2. Sie ist hergekommen, um von ihrer Jugend zu berichten. Der Begriff sei für sie nicht derselbe ist wie bei denen, die hier zuhören: Pnina Katsirs Heimat war die Bukowina, eine Landschaft, deren Norden zur Ukraine und deren Süden zu Rumänien gehört. Als sie neun Jahre alt war, trat Rumänien dem Dreimächtepakt bei, das Staatsgebiet wurde Hitler zum Aufmarsch der Truppen für den Ostfeldzug zur Verfügung gestellt.

Mit der Ankunft der deutschen Truppen veränderte sich der Umgang mit den in Rumänien ansässigen Juden. Frau Katsir erzählt in beinahe ruhigem Ton, wie man ihnen den Schulbesuch verboten habe, wie sie mit Beginn des Krieges in Ghettos gesammelt wurden. Und dann sei angekündigt worden, man bringe sie an einen „besseren Platz“… schon da habe die Familie gewusst, dass die Zukunft ungewiss sei, und die Eltern schärften den Kindern ein, alles zu tun, damit die Familie zusammenbleibe. Die Anweisung, schwere Gegenstände, ältere Menschen und Kinder zurückzulassen, da man diese mit Autos transportieren könne, befolgte die Familie nicht: Die Gegenstände ließen sie zurück, nicht aber die Familienmitglieder.

In den Ghettos wohnten sie mit sechs bis sieben Familien in einer Wohnung. Auf der nun folgenden Reise in den Viehwaggons seien sie drei Tage lang zusammengepfercht gewesen wie „Sardinen“, die Luft knapp und voller Gestank von der Notdurft der gefangenen Menschen. Die Eltern hielten ihre Kinder hoch, damit diese Luft bekommen konnten. Zwei- bis Dreitausend Menschen seien sie auf dem anschließenden Fußmarsch Richtung Fluss gewesen, erklärt Pnina Katsir. Als einige Soldaten ihnen sagten, ihre Mühe sei sinnlos, denn man werde sie ohnehin ertränken, begann ein verzweifeltes Weinen und Klagen. Das erreiche sie heute noch im Schlaf, gesteht Katsir, sie könne es nicht vergessen, die Verzweiflung all dieser Menschen. Diejenigen, die das Überqueren des Flusses – schwimmend – überlebten, kamen in das Ghetto Djurin. In einem Haus mit kaputten Fenstern und einer kaputten Tür überlebte die Familie bei -40 Grad Celsius im rumänischen Winter die Nächte, indem sie sich eng aneinander schlafen legte – auf dem Fußboden, mit einem Teppich zum Zudecken. Sie und ihre Schwester wärmten je einen Fuß der Großmutter.

Es sei ihre Mutter gewesen, die die Familie durch ihren Optimismus am Leben hielt. Man habe durch so viele Dinge sterben können: Hunger, Typhus, Angst und Verzweiflung, Läuse… „Nur Überleben ist unser Zweck, es kommen bessere Zeiten“, das sei der Leitsatz der Familie gewesen. Und gut, dass der Typhus im Winter gekommen sei – da habe man sich Schnee auf die Lippen legen können, um sich zu kühlen. Wasser war kaum verfügbar. „Wir starben wie die Fliegen“, sagt Pnina Katsir, und: „Ich weiß nicht, wie wir den Typhus überlebt haben, aber wir haben es“. 


Im nahegelegenen Dorf Dschuryn nahmen die wegen des Kriegseinsatzes der Männer allein zurückgebliebenen Frauen die Hilfe derer an, die es schafften, sich unter Lebensgefahr aus dem Ghetto zu schmuggeln. Für einen ganzen Tag Arbeit habe sie, gerade 14 oder 15 Jahre alt, ein Stück trockenes Brot bekommen, das sie mit ihrer Familie teilte – ihre Arbeitgeber machten sich mittags Schwein mit Kartoffeln und Gemüse. „Ich hatte Gedanken wie jedes Mädchen in meinem Alter“, sagt Katsir, indem sie ihren Bericht unterbricht. Ihre Mutter habe sie immer getröstet, dass auch sie eines Tages eine Familie haben werde: „Bestimmt, mein Kind, du wirst so schön sein“.

Befreit durch die russischen Soldaten und mit dem kläglichen Rest der väterlichen Familie vereint, beschloss Katsir gemeinsam mit anderen Jugendlichen, nach Israel umzusiedeln. „Wir sahen keinen anderen Weg, um normal zu leben“, begründet sie die Entscheidung, obwohl ihre Familie seit 2000 Jahren nicht mehr dort gewesen sei. Die Einreise sei extrem schwierig und die Wartezeit – in einem Lager auf Zypern - lang gewesen, doch letztlich wurde die Geduld der jungen Leute belohnt. Jeden Monat durften 100 bis 200 von ihnen einreisen. „Wir wussten, unsere Zeit wird kommen“. Im Lager lernten sie hebräisch und nahmen am militärischen Training teil, sodass sie beim Verlassen des Lagers ausgebildete Soldaten waren. Bei der Übersiedlung nach Israel sei sie 18 Jahre alt gewesen, und überglücklich, erklärt Katsir lächelnd. Und gleich sei der nächste Kampf gefolgt – der zwischen Juden und Arabern. Sie sei zum Militär gegangen, und sie sei sehr stolz gewesen, für ihr Land zu kämpfen: „Ich war so stolz, dass ich glaubte, zehn Zentimeter höher zu sein als ich vorher war“.

Der Unterschied zum Vorhergehenden sei gewesen, dass sie sich als Menschen hätten verteidigen können. Und als Menschen hätten leben können, statt wie eine Fliege an der Wand totgeschlagen zu werden. Pnina Katsirs Ton bleibt bei all dem immer ruhig, und gerade das ist es, was den Bericht so erschütternd macht. Sie hat sich helfen lassen, ist Mitglied der Organisation Amcha, die den Überlebenden bei der Bewältigung der Traumata hilft.

Inzwischen reist sie, die Überlebende, viel, um ihre Geschichte zu erzählen. Und dann richtet sie das Wort direkt an die Schülerinnen und Schüler, die nun seit über einer Stunde gebannt zugehört haben, und die – bis auf wenige Unbelehrbare, die es nicht lassen können, das Telefon zu zücken – sehr nachdenklich sind. Ihr müsst diese Sachen lernen. Ihr müsst verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. „Es ist eure Pflicht“, betont sie.

Sie wird gefragt, woher sie so gut Deutsch könne. Das habe sie als Kind gelernt, dann aber 70 Jahre lang nicht mehr gesprochen. Erst durch Helena Schätzle, die Künstlerin, die links neben ihr sitzt und die Reaktionen der Zuhörerschaft aufmerksam beobachtet, habe sie es wieder gelernt. Schätzle war in Israel und hat mit den Überlebenden dort das Gespräch gesucht. Amcha  erstellte gemeinsam mit der Fotografin die Ausstellung mit dem Titel „Leben nach dem Überleben“ („Devoted to live“), die Pnina Katsir am 01. März im Bundessozialgericht Kassel eröffnet hat. Sie bleibt bis zum 11. April 2018 dort.

Es sei ihr beim ersten Mal sehr schwer gefallen, nach Deutschland zu kommen, und nur ihr Stolz darauf, dass sie überlebt hat, habe das Eis gebrochen – und sie doch noch aus dem Fahrzeug steigen lassen, als man auf der Europatour in Deutschland auf Besichtigungstour unterwegs war. Und nun bemüht sie sich, uns Deutschen ihre Erfahrungen sowie die anderer Überlebender nahezubringen. Sie wird auf dieser Reise von ihrer Enkelin begleitet, Yael Katzir, die der Aufforderung ihrer Großmutter, nicht traurig zu sein, sondern das Leben für die ganze Welt besser zu machen, nachkommt. Trotz der furchtbaren Dinge, die sie von ihrer Großmutter erfahren hat, als diese endlich den Mut fand, darüber zu sprechen, strahlt auch sie bei dem Besuch in unserer Aula viel Optimismus aus. Man solle im Kleinen anfangen, hat Pnina Kasir noch gesagt, in der Klasse beispielsweise, und dann vielleicht in der Schule Gutes tun, und dann... wer weiß, was wir schaffen können?