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Ein vorsichtiger Rückblick auf unser Projektthema vom letzten Jahr (Erdkunde GK, Brs, Q4 Abitur 2016)

Als wir uns im letzten Frühjahr 2015 im Rahmen unseres Europaprojektes 2015 unter der Fragestellung „Europa – der gelobte Kontinent?“ mit dem Thema Flüchtlingsmigration beschäftigten, hätten wir es nicht für möglich gehalten, wie rasant und überdimensional sich Flucht und Zustrom und die damit verbundenen nationalen und europäischen Herausforderungen entwickeln würden.

Wir hätten es auch nicht für möglich gehalten, dass diese doch eigentlich absehbare Entwicklung Wohlstandsnationen so hilflos (an)treffen würde, dass sich „Willkommenskultur“ und Aufnahmebereitschaft in Europa so ambivalent entwickeln würden und dass sich bis jetzt keine befriedigende Perspektive im Umgang mit der internationalen Flüchtlingsmigration zeigt. Ebenso erschreckend ist die Abgestumpftheit gegenüber den täglichen Nachrichten, wenn von Ertrunkenen berichtet wird.

Im Rahmen der Vorbereitungen für die Europawoche 2016 haben wir den von uns dokumentierten Zustand im April 2015 unter ausgewählten Gesichtspunkten mit dem „Istzustand April 2016“ verglichen: Was ist aus den Flüchtlingsrouten, den Flüchtlingszahlen, den Statements von Menschenrechtsorganisationen, privaten Rettungsinitiativen, der Willkommenskultur geworden, denen wir jeweils eine Stellwand gewidmet hatten?

 

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Immer noch fliehen weltweit über 60 Millionen Menschen vor Krieg, Zerstörung, Gewalt, Diskriminierung und Armut. Immer mehr machen sich auf den langen Weg nach Europa. 

Angaben der Internationalen Organisation für Migration zum Zeitraum Januar bis 25.04.2016:

Seit die Balkan-Route gesperrt ist, versucht wieder eine steigende Zahl an Flüchtlingen, über den Seeweg nach Europa zu gelangen. Dazu ein Statement von Selmin Caliskan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland:

Selmin Caliskan, die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, kritisiert das EU-Paket mit der Türkei am 24.04.2016 wie folgt:
„Wenn ein Schlagbaum runtergeht, eröffnet sich eine neue Flüchtlingsroute, deswegen ist dieser Flüchtlingsdeal auch kein langfristiger Erfolg, was die Reduktion der Ankunftszahlen angeht. Die Zahlen werden zunächst fallen, und dann werden genau diese Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan über die zentrale und viel gefährlichere Mittelmeerroute kommen, über Ägypten und Libyen. Und das heißt, die Schlepper und Schmuggler und Schlepper werden super daran verdienen. D.h. diese Industrie wird weiter befeuert durch ihre Abschottungspolitik.“
(Talkshow Anne Will zum Thema „Abhängig von Erdogan – Zu hoher Preis für weniger Flüchtlinge?“ ARD, 24.04.2016)

Seit In-Kraft-Treten des EU-Türkei-Abkommens am 20.03.2016 mehren sich die Proteste:
NGOs verlassen Griechenland aus Protest, das UN-Flüchtlingswerk UNHCR beendet seine Mitarbeit mit den dortigen Behörden und selbst die EU-Grenzschutzagentur Frontex mäkelt an der schlechten Umsetzung der Beschlüsse des letzten EU-Gipfels.
Gegenstand des Pakets ist u.a. die Abschiebung der meisten der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge in die Türkei, die im Vertragswerk, vom Menschenrechtlern und Politikern stark kritisiert, als sicherer Drittstaat eingestuft wird. Im Gegenzug soll für jeden dieser zurückgebrachten Schutzsuchenden aus Syrien ein anderer syrischer Flüchtling aus der Türkei direkt in die EU ausgeflogen werden, maximal jedoch 72.000 Flüchtlinge in diesem Jahr.

Die Privatinitiative von Harald Höppner, Seawatch, auch bekannt als "ziviles Auge" auf dem Meer, ist inzwischen auch vor Lesbos aktiv, mit einem zweiten Schiff. Die Ausweitung seines Einsatzes sieht er selbst als Symbol für das Versagen einer Europäischen Politik. Als Reaktion auf die sich zuspitzende Lage in der Ägäis mit hunderten Toten in den letzten Monaten weitete “Sea-Watch“ seinen Einsatz in den letzten Monaten aus und rettet nun auch zwischen der Türkei und Griechenland Menschenleben. Auf den Tag genau 1 Jahr nach dem Auslaufen der Sea-Watch 1 aus Hamburg startet am 20.04.2016 die Sea-Watch 2, ein größeres und mit vielen technischen Möglichkeiten und einer Krankenstation ausgestattetes Schiff, das von einer Crew (Seeleute, Ärzte, Mechaniker/-innen) begleitet wird. Harald Höppner im Rückblick und einem klaren Statement für die Zukunft:

„Als ich letztes Jahr im Angesicht der größten Katastrophe auf dem Mittelmeer bislang, bei der über 700 Menschen dem Europäischen Grenzregime zum Opfer fielen, eine Schweigeminute in der Sendung von Günther Jauch abhalten lies, dachte ich, dass sich tatsächlich etwas ändern könnte. Am selben Tag sind wir mit der Sea-Watch 1 aus Hamburg gestartet und konnten dank der großartigen Unterstützung über den Sommer mehr als 2000 Menschen aus Seenot retten. Leider hat sich die Situation seither eher verschärft und wir gehen heute davon aus, dass wir noch lange aktiv bleiben müssen, denn mit dem Auslaufen der Sea-Watch 2 gestern aus Malta erleben wir ein trauriges Déjà vue: Auch dieses Jahr gab es unmittelbar vor Einsatzbeginn Tote auf dem Mittelmeer, möglicherweise wieder mehrere Hundert.
[…] Sea-Watch ist zu einem Symbol für das Versagen einer Europäischen Politik geworden, welche durch ihre Abschottungsmaßnahmen Notleidende in die Boote zwingt und so für den Tod tausender Menschen verantwortlich ist. […]
Mit dem neuen Schiff können wir länger und zuverlässiger in den Einsatz fahren als mit der Sea-Watch 1.
Gleichzeitig wollen wir mit unserer Arbeit zeigen, wie katastrophal die Situation für Geflüchtete auf dem Meer ist, wie gefährdet sie sind, wenn sie sich auf unsichere Wege in hochseeuntüchtigen Schlauch- oder Holzbooten ohne erfahrene Skipper, Navigation, Wasser und Rettungsmittel begeben, nur weil die Europäische Union auf Abschreckung setzt, statt auf Humanität und Schutz vor Krieg und Verfolgung. Mit der Blockade von Fluchtrouten und politischen Deals wie dem EU-Türkei-Abkommen werden weitere Tote in Kauf genommen. […]
Das jüngste Abkommen zwischen der EU und der Türkei dient der Abschottung Europas vor weiteren Geflüchteten. Sein Inhalt ist zudem rechtlich umstritten und Zeugnis für die Nicht-Achtung von Grundwerten der solidarischen Gemeinschaft. Menschen, die vor Verfolgung und Krieg flüchten, wird der Zugang zu Asyl verwehrt. Stattdessen werden sie in ein unsicheres Drittland abgeschoben.
Wir werden gemeinsam mit CADUS weiter vor Ort sein. Auch wenn die Zahlen der Flüchtlingsboote schwanken, konnte unsere Crew gerade gestern erst wieder ein Boot aus Seenot retten und für uns zählt jedes gerettete Leben. Ohnehin, da die Fluchtursachen weiterhin existieren, werden Menschen auch zukünftig fliehen, ob über das zentrale Mittelmeer oder in der Ägäis. Insofern dient das Abkommen eher als Konjunkturpaket für Schlepper, indem es Menschen in Not auf immer gefährlichere Routen und in die Hände von kriminellen Schleppern treibt.“
http://sea-watch.org/newsletter-sea-watch-2-startet-rettungseinsatz/

Was wurde aus der Willkommenskultur?
Europa ist zerrissen: Ehrenamtliche, die bis an ihre Kräfte gingen, Behörden, die Überschichten schoben und Rentner/Pensionäre zurückbeorderten, eine unglaubliche Spendenbereitschaft, Unterstützerkrise, die vielerorts aktiv sind auf der einen Seite. Ängste vor Überfremdung, Hilflosigkeit, Empathielosigkeit, Aggressionen und wachsende Fremdenfeindlichkeit auf der anderen Seite.

Wie gut, dass es genügend positive Beispiele für Engagement gibt. An dieser Stelle sei auch auf das Tandem-Programm des Kreisschülerrates Kassel "Get in touch" zur Integration junger Flüchtlinge verwiesen, das in Kooperation mit dem Jugendbildungswerk des Landkreises Kassel zustande gekommen ist. Dieses wurde im Rahmen des UNESCO-Projekttages 2016 von den Schülervertretern vorgestellt.

Quellen:

http://www.dw.com/de/fl%C3%BCchtlingsdrama-im-mittelmeer-augenzeugen-berichten-von-vielen-toten/a-19201635
http://www.tagesspiegel.de/politik/abkommen-zwischen-eu-und-ankara-amnesty-tuerkei-schiebt-afghanische-fluechtlinge-ab/13368720.html